Warum hungrige Mäuse Sex dem Fressen vorziehen



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23.02.2023 17:00

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Warum hungrige Mäuse Sex dem Fressen vorziehen

Stimulierung durch das Hormon Leptin führt in Mäusen dazu, dass Hunger kurzzeitig unterdrückt wird, wenn sich die Möglichkeit zu sozialer Interaktion mit dem anderen Geschlecht und zur Fortpflanzung eröffnen. Ist der Hunger jedoch zu stark, wird die Nahrungsaufnahme vorgezogen / Veröffentlichung in „Cell Metabolism“

Fressen oder sich paaren? Da beides für Tier und Mensch überlebenswichtig ist, kann die Wahl zuweilen schwerfallen. Die Antwort zeigt, dass beides durchaus zusammenhängt: Mäßig hungrige Mäuse entscheiden sich im Zweifelsfall für die Paarung, während für sehr hungrige Mäuse das Futter verlockender ist. Reguliert wird das Hungergefühl, und damit die Entscheidung, durch ein spezielles Hormon. Forschende vom Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung und dem Exzellenscluster für Alternsforschung CECAD der Universität zu Köln haben nun gezeigt, dass Mäuse die Interaktion mit Mitgliedern des anderen Geschlechts dem Essen und Trinken vorziehen, wenn ihre Gehirne mit Leptin, einem appetithemmenden Hormon, stimuliert werden. Die Ergebnisse ihrer Studie sind in der Fachzeitschrift Cell Metabolism erschienen.

„Wir können immer nur einem Verhalten nachgehen, also muss unser Gehirn irgendwie berechnen, welches Verhalten sich am meisten lohnt oder was wir am dringendsten brauchen“, sagt Professorin Dr. Tatiana Korotkova, Neurowissenschaftlerin an der Universität zu Köln, Universitätsklinikum Köln und am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung.

Um die Hierarchie angeborener Verhaltensweisen wie Essen, Trinken, Geselligkeit und Paarung zu klären, beobachtete und stimulierte Korotkovas Team die Neuronen der Maus im lateralen Hypothalamus, einem der wichtigsten „Fütterungszentren“ des Gehirns. Sie konzentrierten sich auf Neuronen, die Rezeptoren für Leptin und Neuronen, die Neurotensin produzieren. Leptin und Neurotensin sind Hormone, die mit Hunger und Durst in Verbindung stehen. Zu ihrer Überraschung stellte das Team fest, dass diese Neuronen auch an der Steuerung des Sozialverhaltens beteiligt sind und den Mäusen helfen, ihre Ernährungs- und Sozialbedürfnisse auszugleichen.

Hypothalamus steuert auch das soziale Verhalten

„Wir waren erstaunt, dass der laterale Hypothalamus Fressen und Trinken mit sozialem Verhalten verbindet“, sagt Erstautorin Anne Petzold. „Die Aktivierung von Leptinrezeptor-Neuronen führt dazu, dass Mäuse trotz akuten Hungers oder Durstes soziale Interaktionen bevorzugen. Das ist biologisch sinnvoll, denn Paarungspartner hat man nicht ständig um sich herum, also muss man manchmal Hunger oder Durst ignorieren, um sich paaren zu können.“

Die Forschenden benutzten winzige Mikroskope, um die Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn zu beobachten, während die Mäuse ein Gehege mit Futter, Wasser und anderen Mäuse erkundeten. „Es war ein großer Vorteil, dass wir die Aktivität der Neuronen bei einem sich frei verhaltenden Tier aufzeichnen konnten“, sagt Korotkova. „Wir konnten wirklich sehen, wie sich die neuronale Aktivität während bestimmter Verhaltensweisen verändert, und wir konnten die Aktivität einzelner Zellen mit hoher zeitlicher Präzision verfolgen und verändern.“

Um zu sehen, wie sich die Prioritäten der Mäuse je nach ihrem Hungerlevel änderten, verglich das Team das Verhalten von Mäusen, die unbegrenzten Zugang zu Nahrung hatten, mit „akut hungrigen“ Mäusen (deren Nahrung über Nacht eingeschränkt worden war) und „chronisch hungrigen“ Mäusen (deren Nahrung fünf Tage lang eingeschränkt worden war). Dieser „chronische Hunger“ kann auch in der freien Natur auftreten, wo nicht ständig Nahrung zur Verfügung steht.

Es zeigte sich, dass die Leptinrezeptor-Neuronen gehemmt wurden, wenn die Mäuse fraßen, und aktiviert wurden, wenn sie mit Mäusen des anderen Geschlechts – potenziellen Partnern – interagierten, nicht aber, wenn sie mit Mäusen des gleichen Geschlechts interagierten.

Leptin macht mäßig hungrige Mäuse gesellig

Als Nächstes setzten die Forschenden Licht und chemische Signale ein, um die Neuronen selektiv zu stimulieren, und beobachteten, ob und wie diese Aktivierung das Verhalten der Mäuse veränderte. Die Leptinstimulation hatte nur geringe Auswirkungen auf das Verhalten der satten Mäuse, die im Allgemeinen mehr an sozialen Kontakten als an Essen interessiert waren. Als die Forschenden jedoch die Leptinrezeptor-Neuronen der akut hungrigen Mäuse aktivierten, änderten sich ihre Prioritäten: Sie näherten sich dem Futter langsamer, aßen weniger und verbrachten mehr Zeit mit sozialen Kontakten zu potenziellen Partnern und Partnerinnen. Allerdings konnte die Leptinstimulation den stärkeren Hunger von Mäusen mit chronischer Nahrungsbeschränkung nicht aufheben: ihr Appetit blieb erhalten und ihre Prioritäten änderten sich auch nicht durch die Leptinaktivierung.

„Wir haben also ein System, das nur mäßigen Hunger, aber keinen stärkeren Hunger regulieren kann“, sagt Korotkova. „Dieser Kreislauf könnte dazu beitragen, warum Diäten oft nicht funktionieren: Es ist kein Problem, die Nahrungsaufnahme für kurze Zeit zu reduzieren, aber es funktioniert schwieriger, wenn man es länger versucht.“
Im Gegensatz dazu beobachteten die Forscher*innen bei der Aktivierung von Neurotensin-Neuronen ein verstärktes Trinkverhalten auf Kosten von sozialen Kontakten.

Eine Nervenzelle koordiniert verschiedene Verhaltensweisen

„Normalerweise denken wir, dass Neuronen eine bestimmte Funktion haben, aber wir fanden heraus, dass eine Zelle tatsächlich mehrere verschiedene Reize kodieren kann“, sagt Korotkova. Das sei biologisch sinnvoll, denn Verhaltensweisen müssen koordiniert werden und es ist viel effizienter, Verhaltensweisen mit ein und derselben Zelle zu koordinieren, als wenn viele verschiedene Zelltypen irgendwie miteinander kommunizieren.“ Sie resümiert: „Als Nächstes möchten wir verstehen, wie sich die Aktivität dieser Zellen während des Fortschreitens von Fettleibigkeit oder der Entwicklung von Essstörungen verändert.“

Die Forschung wurde durch den ERC Consolidator Grant und die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützt.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Professorin Dr. Tatiana Korotkova
+49 221 478 84 86464
Tatiana.korotkova@uk-koeln.de


Originalpublikation:

Petzold A, van den Munkhof HE, Figge-Schlensok R, Korotkova T. Complementary lateral hypothalamic populations resist hunger pressure to balance nutritional and social needs. Cell Metabolism 35, p.1–16; March 7, 2023
https://doi.org/10.1016/j.cmet.2023.02.008


Bilder

Nervenzellen im Hypothalamus (grün gefärbt) steuern nicht nur das Fressverhalten, sondern auch die soziale Interaktion. Die Linien zeigen die Aktivität einzelner Nervenzellen in dieser Hirnregion.

Nervenzellen im Hypothalamus (grün gefärbt) steuern nicht nur das Fressverhalten, sondern auch die s
Anne Petzold
Universität zu Köln


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


 

Quelle: IDW