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19.12.2022 13:07
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Wenn Herzzellen nicht mehr „zuhören“
Herzgewebe besteht aus verschiedenen Zelltypen. Ist das Gewebe gesund, „schwatzen“ die Zellen ausgiebig mit ihren Nachbarn, indem sie über Rezeptoren und Liganden Informationen austauschen. In alten und kranken Herzen scheint das nicht mehr gut zu funktionieren. Ein junges Forschungsteam aus Frankfurt ist der gestörten Kommunikation zwischen Herzmuskelzellen und Endothelzellen mittels Einzelzellsequenzierung auf die Spur gekommen.
Seit rund fünf Jahren arbeiten Forscher weltweit daran, mithilfe der Einzelzellsequenzierung einen Zellatlas des menschlichen Organismus zu erstellen. Mit der Methode lassen sich Zelltypen unterscheiden, weil in ihnen unterschiedliche Gene abgelesen – man sagt exprimiert – werden. Und das funktioniert so:
Briefe aus dem Zellkern
Alle Zellen eines Organismus tragen im Zellkern dieselbe genetische Information. Aber warum haben dann Hautzellen ganz andere Eigenschaften als Herzmuskelzellen? Jede Zelle stellt nur solche Genkopien her, die sie für ihre Funktion braucht. Die Genkopien heißen Messenger-RNA und tragen den Bauplan für ein Protein. Man kann sich die Messenger-RNA vorstellen wie Briefe mit Bauanleitungen, die der Zellkern an die Proteinfabriken der Zelle, die Ribosomen, verschickt.
Unterschiedliche Zellarten benötigen unterschiedliche Proteine – daher schwirren je nach Zelltyp auch andere Briefe mit Bauanleitungen in den Zellen herum – sprich, jede Zellart hat eine charakteristische Zusammensetzung von Messenger-RNA-Molekülen. Analysiert man diese Moleküle Zelle für Zelle, erhält man über ein aufwändiges bioinformatisches Verfahren eine extrem genau Vorstellung davon, aus welchen Einzelzellen Gewebe und Organe aufgebaut sind. 2020 erschien so in Nature der „Zellatlas des erwachsenen Herzens“.
Verräterische Muster
Wenn sich gesunde Zellen aus unterschiedlichen Geweben in den Expressionsmustern unterscheiden, müsste dies auch bei gesunden und kranken Zellen desselben Gewebes der Fall sein, überlegten sich die Frankfurter Forscherinnen und Forscher. Sie untersuchten deshalb die Herzscheidewand (Septum) von Patienten, die eine neue Aortenklappe bekommen hatten. Eine undichte Aortenklappe überlastet den Herzmuskel, wodurch sich die Herzzellen auf ungesunde Weise vergrößern, man sagt sie hypertrophieren. Die Forscher bekamen Biopsien von hypertrophem Septum direkt aus dem OP der Herzchirurgie der Frankfurter Uniklinik.
Gestörte Kommunikation macht Herzzellen krank
Mittels der Einzelzellsequenzierung ordneten sie die Zellen zunächst den für Herzgewebe typischen Zellarten zu, etwa Herzmuskelzellen, Bindegewebszellen, Endothelzellen (sie kleiden die Blutgefäße aus) und Immunzellen. Dann bestimmten sie für jede Zellart die Expression weiterer Gene und verglichen diese mit einem Datensatz aus gesundem Herzgewebe, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Wellcome Sanger Institut in „Nature“ veröffentlicht hatten.
„Dabei fiel uns auf, dass Herzmuskelzellen im kranken Herzen deutlich weniger mit anderen Zelltypen kommunizieren. Besonders wurden wir auf das Gen für den Rezeptor EPHB1 aufmerksam, da es in den kranken Herzzellen nur sehr gering exprimiert war, das heißt, er hatte seine Arbeit quasi eingestellt“, sagt Erstautorin der Studie Simone-Franziska Glaser vom Institut für kardiovaskuläre Regeneration am Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Laut der wissenschaftlichen Literatur tauscht EPHB1 Signale mit einem Liganden namens EFNB2 aus. Letzterer sitzt hauptsächlich auf Endothelzellen. Die Hypothese der Forscher: Die Herzmuskelzellen „hören“ nicht mehr, was die Endothelzellen „zu sagen“ haben und das bekommt ihnen nicht.
Ihre Hypothese bestätigten die Forscher in Zellmodellen: War der EPHB1-Signalweg künstlich gestört, weil die Endothelzellen kein EFNB2 bilden konnten, stresste das die Herzmuskelzellen. Sie schlugen (kontrahierten) langsamer und vergrößerten sich krankhaft. Hatten die Herzmuskelzellen Kontakt mit ausreichend EFNB2, blieben die Zellen normalgroß und schlugen im richtigen Tempo.
„Wir freuen uns, dass wir diesen Mechanismus erstmals beschreiben konnten“, sagt Glaser. Ihr Team will die Sequenzdaten nun noch tiefer analysieren und auch andere Teile des Herzens und andere Schweregrade der Herzhypertrophie untersuchen. „So lernen wir zu verstehen, wie eine Herzmuskelvergrößerung entsteht und wodurch sie sich verschlechtert – immer mit dem Ziel, eine Therapie für das kranke Herz zu entwickeln“, sagt sie.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Simone-Franziska Glaser, Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für kardiovaskuläre Regeneration, glaser@med.uni-frankfurt.de
Originalpublikation:
Nicin, L., Schroeter, S.M., Glaser, S.F. et al. A human cell atlas of the pressure-induced hypertrophic heart. Nat Cardiovasc Res 1, 174–185 (2022). https://doi.org/10.1038/s44161-022-00019-7
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Ist das Herzgewebe gesund, „schwatzen“ die Zellen ausgiebig mit ihren Nachbarn – in alten und kranke …
Eigene Illustration im Rahmen der Forschungsarbeit
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch