Wie SARS-CoV-2 auf den Magen-Darmtrakt schlägt: Remdesivir unterdrückt Coronavirus-Infektion im „Minidarm“



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17.11.2020 15:28

Wie SARS-CoV-2 auf den Magen-Darmtrakt schlägt: Remdesivir unterdrückt Coronavirus-Infektion im „Minidarm“

COVID-19 ist keine reine Lungenkrankheit: Rund die Hälfte der Patientinnen und Patienten leiden unter Durchfall und Übelkeit. Solche Symptome sind sogar mit einem schweren Krankheitsverlauf assoziiert, weshalb künftige Behandlungsstrategien auch im Magen-Darmtrakt wirken sollten. Jetzt haben Ulmer Forschende aus Virologie und Gastroenterologie molekulare Vorgänge bei einer Coronavirus-Infektion im Darmmodell untersucht. Mithilfe von “Minidärmen” aus Stammzellen haben sie zudem die antivirale Wirksamkeit von Remdesivir und anderen Medikamenten im Verdauungstrakt überprüft. Ihre Studie ist in “Cellular and Molecular Gastroenterology and Hepatology” erschienen

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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Zu Beginn der Coronavirus-Pandemie galt COVID-19 als reine Atemwegserkrankung mit Symptomen von Husten bis zur Lungenentzündung. Doch mittlerweile sind ganz andere Krankheitszeichen bekannt, darunter Übelkeit und Durchfall. Solche Auswirkungen auf den Magen-Darmtrakt weisen sogar auf einen schweren Verlauf hin. Molekulare Einblicke in den Infektionsvorgang mit SARS-CoV-2 im Darmmodell gibt eine Studie, die jetzt im Fachjournal „Cellular and Molecular Gastroenterology and Hepatology“ erschienen ist. Anhand von „Minidärmen“ aus Stammzellen haben die Autorinnen und Autoren der Ulmer Universitätsmedizin zudem das antivirale Potenzial von Medikamenten wie Remdesivir im Verdauungstrakt untersucht.

Bei der Erforschung von COVID-19 stand zunächst die Lunge im Vordergrund, denn etwa 20 Prozent der Erkrankten entwickeln eine schwere, womöglich tödliche Lungenentzündung. Allerdings vermehrt sich das neuartige Coronavirus (SARS-CoV-2) in vielen weiteren Organen. Etwa die Hälfte der Patientinnen und Patienten zeigen zum Beispiel Symptome des Magen-Darmtrakts wie Durchfall oder Übelkeit – darunter sind viele schwer Erkrankte.
In diesem Zusammenhang fiel auf, dass die Viruslast im Stuhl von Infizierten besonders hoch ist. Auch noch Tage nach einem negativen Corona-Testergebnis mittels Nasen-Rachenabstrich ist der Erreger in Stuhlproben nachweisbar. Daher sollten künftige Behandlungsstrategien gegen SARS-CoV-2 auch im Magen-Darmtrakt wirksam sein.

Die molekularen Vorgänge bei einer Coronavirus-Infektion im Magen-Darmtrakt hat eine
Ulmer Forschergruppe um den Virologen Professor Jan Münch und den Gastroenterologen Professor Alexander Kleger untersucht. „Eine Infektion mit SARS-CoV-2 ist nur möglich, wenn der Rezeptor ACE2, an den das Virus andocken kann, sowie die Protease TMPRSS2 im Gewebe vorhanden sind. In gesundem Darm haben wir diese Proteine durchgehend und besonders häufig im Zwölffingerdarm gefunden“, erklärt Professor Jan Münch vom Institut für Molekulare Virologie des Universitätsklinikums Ulm.
Im nächsten Schritt wollten die Forschenden herausfinden, welche Zellen des Verdauungstrakts genau mit SARS-CoV-2 infiziert werden können. Dafür nutzten sie so genannte Organoide, die aus embryonalen Stammzellen gezüchtet werden. „Diese ,Minidärme‘ aus dem Labor kommen dem menschlichen Dünndarm sehr nahe und verfügen über große Mengen der notwendigen Andockstellen“, ergänzt Dr. Sandra Heller, Biologin an der Universitätsklinik für Innere Medizin I. Die Forschenden haben diese Organoide dem neuartigen Coronavirus ausgesetzt und den Infektionsvorgang mit verschiedenen molekularbiologischen Methoden untersucht. „Tatsächlich sind die meisten Zelltypen, darunter auch hormonbildende Enteroendokrine Zellen und für die Immunabwehr wichtige Paneth-Zellen, mit SARS-CoV-2 infizierbar. Sie beginnen umgehend mit der Replikation, also mit der Herstellung neuer, infektiöser Viren. Eine Ausnahme bilden lediglich schleimproduzierende Becherzellen“, erklärt Erstautorin Jana Krüger, die gemeinsam mit den Virologen Rüdiger Groß, Dr. Janis Müller und Carina Conzelmann die wichtigsten Experimente der Arbeit durchgeführt hat.

Doch wie lässt sich das Infektionsgeschehen im Verdauungstrakt stoppen? Die Autorinnen und Autoren haben verschiedene Medikamente an den infizierten Darm-Organoiden getestet. Als antiviral wirksam erwies sich Remdesivir: Ursprünglich für die Ebola-Behandlung entwickelt, blockiert der Wirkstoff die RNA-Polymerase und somit die Vermehrung von SARS-CoV-2. Darüber hinaus konnte das Peptid EK1 die Coronavirus-Infektion im Minidarm unterdrücken. Hierbei handelt es sich um einen so genannten Fusionsinhibitor, der das Eindringen des Virus in die Zelle verhindert. „Interessanterweise fällt die antivirale Wirksamkeit von Remdesivir im Minidarm erheblich geringer aus als in einfachen Darmzell-Kulturen. Diese Beobachtung untermauert die Notwendigkeit, antivirale Substanzen gegen SARS-CoV-2 in ausreichend komplexen Systemen zu testen“, ergänzt Heisenberg-Professor Alexander Kleger, Oberarzt an der Klinik für Innere Medizin I des Universitätsklinikums Ulm.

Die jetzt erschienene Studie liefert notwendige Details, um die Magen-Darmsymptomatik und die hohe Viruslast im Stuhl von COVID-19-Kranken zu erklären: Der Verdauungstrakt bietet SARS-CoV-2 ausreichend Andockstellen, um verschiedene Zelltypen zu infizieren, die wiederum neue Coronaviren herstellen. Der daraus resultierende Verlust spezialisierter Darmzellen kann zu Krankheitszeichen wie Durchfall und Übelkeit führen. Weiterhin ist es den Forschenden gelungen, Medikamente anhand von Darm-Organoiden zu testen: Über die Coronavirus-Forschung hinaus belegen diese Untersuchungen den Mehrwert dieser Minidärme.

An der von den Professoren Alexander Kleger und Jan Münch sowie Dr. Sandra Heller geleiteten Studie waren Forschende des Instituts für Molekulare Virologie, des Instituts für Mikrobiologie und Hygiene sowie des Instituts für Pathologie und der Klinik für Innere Medizin I des Universitätsklinikums Ulm beteiligt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden im Zuge des EU-Projekts Fight-nCoV (Horizon 2020) sowie des Sonderforschungsbereichs 1279 (Nutzung des menschlichen Peptidoms zur Entwicklung neuer antimikrobieller und anti-Krebs Therapeutika) unterstützt. Dazu kommen Fördermittel des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK).


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Jan Münch: 0731/500-65154, jan.muench@uni-ulm.de
Prof. Dr. Alexander Kleger: 0731/500-44541 (Sekretariat), alexander.kleger@uniklinik-ulm.de


Originalpublikation:

Krüger J, Groß R, Conzelmann C, Müller JA, Koepke L, Sparrer KMJ, Weil T, Schütz D, Seufferlein T, Barth TFE, Stenger S, Heller S, Münch J, Kleger A, Drug inhibition of SARSCoV-2 replication in human pluripotent stem cell-derived intestinal organoids, Cellular and Molecular Gastroenterology and Hepatology (2020), DOI: https://doi.org/10.1016/j.jcmgh.2020.11.003


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW